Die
aufregendste und längste Grenzstreife meines Lebens
Im Jahr
der Grenzöffnung war ich Gruppenführer im Technischen Zug des
Bundesgrenzschutzes in Goslar. Als ausgebildeter Streifenführer wurde ich
ebenfalls des Öfteren zur Grenzstreife eingesetzt.
Als am
Samstag, den 11.11.1989 in Eckertal die Grenze geöffnet wurde, befand ich mich
in meinem Heimatort Weddingen gegen Mittag auf einem Baugerüst und half einem
Freund beim Hausbau. Seine Frau öffnete von innen ein Fenster, und fragte mich:
„ Lutz sag mal, was ist eigentlich ein Polizeialarm?“ Nachdem ich es ihr erklärt
hatte, bemerkte sie: „Na dann musst du wohl jetzt los, deine Frau hat gerade
Bescheid gesagt, der Grenzschutz hat angerufen, es ist Polizeialarm ausgelöst
worden.“ Beinahe wäre mir meine Maurerkelle aus der Hand gefallen.
Ich nach
Hause, Uniform an und ab nach Goslar zur Abteilung.
Dort
empfing mich schon der eingesetzte Offizier vom Dienst und teilte mir mit: „Sie
müssen sofort mit einer Streife zur Grenze nach Zorge/Walkenried/Ellrich (DDR).
Dort soll heute die Grenze geöffnet werden.“
Also
fuhr ich mit einem Kameraden, welcher als Kraftfahrer fungierte, schnellstens
zum südlichsten Punkt unseres damaligen Grenzabschnitts.
Und was
war dort? NICHTS.
Über
Funk hörten wir allerdings, dass sich in Eckertal etwas tat.
Auf
mehrmaliges Nachfragen erhielt ich immer nur die Antwort: „Grenze weiter
beobachten, warten“.
Und so
fuhren wir immer an der Grenze hin und her, 10 km nach rechts 10 km nach links.
Irgendwann kam erneut ein Funkspruch: „Sofort wieder zur Straße Zorge/Ellrich!
Dort hat jemand eine DDR-Grenzsäule herausgerissen und gestohlen“. Eine
solche Säule in den Farben
schwarz, rot, gold mit
DDR-Emblem steht ca. 2-5 Meter auf DDR-Gebiet am Grenzverlauf und wiegt etwa
sechs Zentner.
Die
Meldung über den Diebstahl/die Grenzverletzung kam von der DDR über Marienborn.
Die Grenztruppen hatten den Diebstahl beobachtet.
Damals
wurde so etwas als internationale Provokation angesehen, mit staatlichen
Protesten der DDR-Führung an die Bundesrepublik.
Als wir
am vermeintlichen Tatort erschienen, war an besagter Stelle tatsächlich ein
großes Loch in der Erde und der sogen. “Papageienpfahl“ fehlte.
Eine gut
sichtbare Schleifspur führte gen Westen bis nach Zorge hinein.
Wir
folgten dieser und nach ca. 1 km fanden wir auf einem Grundstück einen Traktor
mit besagtem Pfahl hinten auf der Ackerschiene.
Der
Eigentümer befand sich in einer nahe gelegenen Gaststätte und feierte.
Er war
der Meinung, die Grenze fällt sowieso und Grenzpfähle braucht man dann eh nicht
mehr.
Wie
recht er hatte, zeigte sich später.
Die
Lösung des jetzigen Problems bestand darin, dass ich mir den Traktorschlüssel
geben ließ und den Grenzpfahl eigenhändig mit dem Traktor zurück brachte und ihn
vorsichtig direkt an den Grenzverlauf ablegte.
In
meiner Dienstelle atmete man auf, wurde doch ein „innerdeutscher Konflikt“
verhindert.
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Rücktransport der
DDR-Grenzsäule |
und abgelegt auf
DDR-Gebiet. |
Als würde die Säule
die "gefallene DDR" symbolisieren. |
Kurz
darauf kam aber schon der nächste Funkspruch.
„Ab zur
Straße Walkenried/Ellrich. Menschenansammlung auf westlicher Seite“.
Dort
angekommen, es wurde bereits dunkel, standen da ca. 50 bis 70 Menschen.
Es wurde
mir gesagt: „ Drüben in Ellrich ist was los“. Und tatsächlich, Rufe und
Sprechchöre drangen zu uns herüber.
Plötzlich erschien eine Streife der DDR-Grenztruppe und entfernte ein Stück aus
dem Metallgitterzaun.
Da auf
unserer Seite ein ca. 10 m langes Holzgeländer stand, meinte ein Mann zu mir,
dass dieses nun eigentlich auch weg müsste.
Ich
starrte nur auf das Loch im Grenzzaun, konnte es noch gar nicht fassen und
raunte ihm zu: „Macht doch einfach“
Ich
hatte jedoch nicht mit der Reaktion gerechnet.
Der Mann
rief den anderen zu: „Hört mal, der Grenzer hier hat gesagt, unser Zaun muss
auch weg, packt mal mit an. Und bevor ich etwas entgegnen konnte, griffen
hundert Hände zu und das gesamte Geländer inkl. Pfosten lag auf der Seite.
Und alle
riefen in den Osten hinüber: „Kommt rüber, wir warten auf euch“.
So
langsam kamen die Rufe aus Richtung Ellrich näher und nach einiger Zeit
erschienen die ersten Landsleute am Metallgitterzaun und gingen durch die
Öffnung Richtung Westen, erst vereinzelt, vorsichtig, dann in einem nicht
endenden Strom.
Die
Menschen weinten und lachten zugleich, Ost wie West.
Im
Bewusstsein dieses geschichtlichen Moments und der Freude der Menschen kamen
auch mir und meinem Kameraden die Tränen.
Mir fiel
nicht Besseres ein, als in unser mitgeführtes Megafon zu sprechen und unsere
Landsleute aus der DDR herzlich in der Bundesrepublik willkommen zu heißen.
An zwei
Dinge kann ich mich noch besonders erinnern.
Zum
einen, dass in Walkenried Sirenenalarm ausgelöst wurde, und nach einiger Zeit
die freiwillige Feuerwehr mit Beleuchtungsgerät aus Walkenried anrückte um den
Ort des Geschehens auszuleuchten.
Und zum
anderen, dass im Westen die Kirchenglocken anfingen zu läuten. Ich glaube, sie
haben fast eine Stunde lang geläutet.
Ich
denke, auch Gott hat dieser Moment besonders gefallen.
Wir
haben bis ca. 23.00 Uhr an der Grenze verbracht, dann wurden wir durch eine
andere Grenzstreife aus Goslar abgelöst.
Zwischenzeitlich erfuhren wir natürlich auch, was sich derzeit in Eckertal
abspielte.
Obwohl
Dienstschluss war und entgegen unseres Streifenauftrags, fuhren wir noch nach
Eckertal, um meine eigentliche Einheit, den Technischen Zug des BGS, zu
unterstützen.
Dieser hatte damit begonnen, eine Behelfsbrücke über die Ecker zu bauen.
Als wir
gegen 00.00 Uhr ankamen, herrschte schon unbegreifliche Feierstimmung. Es war
wie im Tollhaus.
Ein
besserer Vergleich fällt mir bis heute nicht ein.
Ich war
gerade aus dem Auto ausgestiegen, als mir mein ehemaliger Englischlehrer der
August-Winnig-Schule Vienenburg um den Hals fiel. Er kam aus dem Stapelburger
Kulturhaus und trug ein Honeckerbild unter dem Arm.
Überschwänglich, beflügelt wohl auch durch ein wenig Hasseröder Bier, erzählte
er mir von den Ereignissen des Tages.
Ich habe
dann noch bis 02.00 Uhr meinen Kameraden beim Brückenbau geholfen.
Dabei
hatten wir auch das erste Mal Kontakt mit den Grenztruppen der DDR. Auch diese
waren von einer Pioniereinheit und schufen auf der Ostseite einen begehbaren
Fußweg. Nicht mit den Offizieren, sondern mit den einfachen Soldaten sind wir
sofort in Kontakt gekommen. Trotz Sprechverbot hatten sie durch den Eindruck der
Ereignisse und durch den Schutz der Dunkelheit keine Angst mehr, mit uns zu
reden.
Auch
waren wir gegenseitig scharf auf Requisiten des anderen Uniformträgers.
Schiffchen, Baretts und Schulterstücke wechselten unter der Hand den Besitzer.
Gegen
03.00 Uhr morgens beendete ich nach fast 14 Stunden Dienst meine Grenzstreife.
Ich habe
noch viele schöne und aufregende Stunden in der Zeit zwischen Grenzöffnung und
Wiedervereinigung an der Grenze erlebt, aber einen solchen Tag nie wieder.
Den
11.11.1989 werde ich immer in Erinnerung behalten. Es war der schönste Tag
meiner beruflichen Laufbahn.
Dass ich
dabei sein durfte, darauf bin ich stolz.
Lutz
Schröder
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