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Seite erstellt: 16.04.2015

Letzte Änderung: 07.01.2019

 

 

Aus meiner Dienstzeit beim Bundesgrenzschutz in Braunschweig (5. Hundertschaft)

 

Die DDR in Flammen - Ein gescheiterter Fluchtversuch und die Folgen einer pyrotechnischen Maßnahme


Das Jahr 1975 brachte einen der trockensten und heißesten Sommer hervor. Über Wochen herrschte ein stabiles Hochdruckgebiet. Die dauerhaften hohen Temperaturen waren für uns Nordlichter sehr ungewöhnlich.

Während dieser Hitzeperiode hatte Anfang August unsere Hundertschaft im normalen Rhythmus mal wieder die Abteilungsdienste zu stellen. Das heißt, eine Woche lang waren täglich etwa 25 Mann für Unterkunftswache, Bereitschaftsgruppe und die drei bis vier Grenzstreifen eingeteilt.
Der Rest der Hundertschaft ging den üblichen Tätigkeiten nach. Bei der vorherrschen Hitze suchte jeder gleich nach der morgendlichen Befehlsausgabe ein kühles Plätzchen. Im Kellergeschoss gab es einige angenehm kühle Räume, die auch über den gesamten 8-Stunden-Dienst zumindest dem Unterführercorps und den Funktionern als beliebte Aufenthaltsorte dienten. [Anm.: diese Räumlichkeiten wurden übrigens auch dann gern aufgesucht, wenn es draußen nicht so brütend heiß war.]


Der Spieß hatte mich in der Woche an fünf Tagen für den Grenzstreifendienst als Streifenführer eingeteilt, davon drei Nachtstreifen mit Dienstbeginn zwischen 20.00 und 24.00 Uhr.
Also alles angenehme 8-Stunden-Dienste und kein Wach- oder Bereitschaftsdienst über 24 Stunden. Diese 24-Stunden-Dienste waren den Unterführer-Frischlingen vorbehalten bzw. denjenigen, die keine so guten Karten beim Spieß hatten.
Und bei den Temperaturen war es natürlich zusätzlich von Vorteil, zur Nachtstreife eingeteilt zu sein, wenn es dann nur noch 20-25° warm war.

Die letzte der fünf Grenzstreifen musste ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag fahren.
Zur Streifengruppe gehörten neben mir als Streifenführer noch der Kraftfahrer und zwei Streifenposten.
Abfahrt aus der Unterkunft um 22.00 Uhr, geplante Rückkehr am nächsten Morgen gegen 06.00 Uhr.

 

 

Der Hanomag 40/1gl

Ein typischer Mannschaftstransportwagen des BGS, der in den 1960er und 70er Jahren auch für den Grenzstreifendienst eingesetzt wurde.

 


Vor Abfahrt musste neben dem Streifenbefehl natürlich noch die übliche Streifenausstattung in Empfang genommen werden: MP5 und Pistole (für den Streifenführer), G1-Gewehre
und Schlagstöcke (für Kraftfahrer und die beiden Streifenposten), des Weiteren: Signalpistole, Funkgerät FuG 7b + 6b, Fernglas, Kartentasche, Kompass, Streifenmappe und natürlich ausreichend Verpflegung.

MP5 Pistole P38 Gewehr G1 Signalpistole Diana Schlagstock
FuG 7b FuG 6b Kartentasche Kompass Bezard Taschenlampe

 


Der Streifenbefehl sah die Grenzüberwachung im südlichen Grenzabschnitt der Braunschweiger Abteilung auf einer Länge von etwa 20 km vor und zwar von Mattierzoll (B 79) bis Steinfelder Zoll südöstlich von Schladen. Abgesehen von den Stechfliegen und Mücken im Gebiet des Schiffgrabens erwarteten wir einen relativ ruhigen Nachtstreifendienst. Für den Fall, dass eine Streifenkontrolle anrollen sollte, gab es ein vereinbartes "Warnsignal" von der Funkmeldestelle der Abteilung.

 


An dem einen oder anderen Punkt war "stehende Beobachtung" von jeweils ca. 30 Minuten Dauer vorgesehen, ein Streckenabschnitt (ca. 4-5 km) musste als "Fußstreife" zurück gelegt werden, ansonsten "Mot.-Streife" - also Grenzüberwachung auf vier Rädern.

Die ersten sechs Dienststunden verliefen, wie vermutet, ganz normal. Die Streifenbesatzung hatte sich gut auf den Dienst vorbereitet. Der Kraftfahrer war ausgeschlafen und die beiden Streifenposten nutzten die etwa 45-minütige Anfahrt zur Grenze, um ihre Geschichten aus der Zeit als kanadische Waldarbeiter zu erzählen.
Im Streifenbericht war erst einmal nichts Besonderes zu vermerken gewesen, zumal die Mondphase auf Neumond gestellt war und außer den Scheinwerfern des einen oder anderen Grenztruppenfahrzeugs auf der anderen Seite der Grenze kaum etwas zu erkennen war.

Stündlich musste noch die Meldung an die Abteilung per Funk mit Standortdurchgabe und kurzem Lagebericht abgegeben werden. In der Regel hieß es dann in der Meldung: "Keine besonderen Vorkommnisse und Erkenntnisse".
Dies sollte sich im Laufe der restlichen Streifendienstzeit jedoch noch schlagartig ändern.

 

Gegen 04.00 Uhr näherten wir uns der Göddeckenroder Straße - von der Osterwieker Straße kommend über die Rimbecker Straße und durch das Probsteiholz. Der MTW musste sich den Anstieg hoch zum Probsteiholz schon mächtig quälen.
Am Meldepunkt 266 "Trittelbergweg", 250 Meter westlich vom Probsteiholz, war lt. Streifenbefehl die vorletzte stehende Beobachtung vorgesehen.

 


Aufgrund des fehlenden Mondlichts fuhr der MTW nicht mit Tarnlicht sondern mit Abblendlicht.
Tarnlicht war sowieso unsinnig, da allein schon das Motorengeräusch des Hanomags unsere Anwesenheit verriet.
Die beiden Streifenposten hatten es sich mal wieder gemütlich gemacht und ihre Sägen angesetzt.
Der Kraftfahrer stimmte sich auch so langsam auf eine halbstündige Ruhepause ein. Ich selbst wollte die Zeit nutzen, um den Streifenbericht zu schreiben.
Vorher sollte nur noch schnell an die Abteilung die nächste Standortmeldung
mit dem Zusatz "Keine besonderen Vorkommnisse!" per Funk abgesetzt werden.

 

 

Streifenführer (re.) beim Absetzen einer Funkmeldung über das im Kfz. eingebaute Funkgerät FuG 7b. Links im Bild der Kraftfahrer.

 

 

Auf der Anhöhe verließen wir den Rand des Probsteiholzes und näherten uns dem Trittelbergweg. Auf der anderen Seite waren die Scheinwerfer zweier Grenztruppenfahrzeuge zu erkennen.
Anhalten, Motor abstellen, beobachten und die beiden Fahrzeuge mit im Streifenbericht erfassen. Nichts Besonderes, wie es schien. Aber es kam anders.

Kaum war der MTW zur Ruhe gekommen, hörten der Kraftfahrer und ich von der anderen Seite der Grenzsperranlagen her hektische Rufe und lautes Schreien, das sogar die Geräusche aus dem hinteren Teil unseres Fahrzeuges übertönte.
Sofort raus aus dem Fahrzeug und die Lage sondieren. Die beiden Streifenposten mussten sich erst einmal kräftig schütteln, um wieder in die Realität zurück zu finden.
Aufgrund der Dunkelheit (wie bereits erwähnt: es war Neumond) war auch mit dem Fernglas nur schemenhaft zu erkennen, dass mehrere DDR-Grenzer an den Sperranlagen hin und her liefen. Das wenige vorhandene Licht, das die Scheinwerfer der Grenztruppenfahrzeuge lieferte, reichte nicht aus, um Genaueres zu erkennen.
Wir konnten nur vermuteten, dass es sich um einen gescheiterten Fluchtversuch handelte, der sich hinter den Sperranlagen abspielte. Die verzweifelten Schreie und das vielstimmige laute Gebrüll zumindest deuteten darauf hin.
Mehr Licht musste her! Also die Signalpistole zur Hand und eine Leuchtpatrone weiß (Vorfeldbeleuchtung) senkrecht in die Luft gefeuert.

 

   

 

Es wurde kurzzeitig taghell. Das Sichtergebnis war zufriedenstellend. Wir konnten gerade noch erkennen, dass eine Person von mehreren Grenzern zu einem der Fahrzeuge abgeführt wurde.
Eindeutig ein gescheiteter Fluchtversuch, wie schon vermutet. Einen solchen Vorfall erlebte man Gott-sei-Dank nicht alle Tage und jedem von uns war die Wut - aber auch die Hilflosigkeit - anzumerken.
Der Flüchtling schien aber nicht durch Waffengewalt verletzt worden zu sein. Zumindest war in der Zeit, als unsere Streife am Trittelbergweg eintraf, kein Schuss zu hören gewesen und der Flüchtling konnte sich
noch selbst auf eigenen Beinen fortbewegen.


Der Streifenbericht würde nun wohl doch etwas ausführlicher ausfallen.
Schließlich mussten alle Beobachtungen und Erkenntnisse genauestens erfasst werden, da diese besonderen Vorkommnisse von der Abteilung über das Grenzschutzkommando Nord in Hannover weiter zum Bundesinnenministerium nach Bonn gemeldet wurden.


All diese Gedanken schwirrten einem durch den Kopf, als urplötzlich nochmals ein Schein "aufflammte".
Die Erdanziehungskraft und evtl. eine unerwartet aufgetretene Windböe hatten die Leuchtpatrone etwa 30 Meter auf das DDR-Gebiet gezogen - genau zwischen Grenzverlauf, an dem wir standen und dem an dieser Stelle ca. 80 Meter entfernten Grenzsperrzaun.

 

 

Letzte verglühende Reste des Pulvers der Leuchtpatrone hatten sofort das knochentrockene Gelände in Brand gesetzt und das den Grenzsperranlagen in Richtung Bundesrepublik vorgelagerte DDR-Hoheitsgebiet stand hell erleuchtet in Flammen!


Hatten wir uns doch auf eine ruhige Grenzstreife eingerichtet. Nicht, dass der missglückte Fluchtversuch schon genug gewesen wäre an besonderen Vorkommnissen! Nun auch das noch!
Was tun? Das DDR-Gebiet durften wir auf keinen Fall betreten. Also brennen lassen und so tun, als wäre nichts geschehen?
Was würde passieren, wenn von DDR-Seite eine offizielle Protestnote an die Bundesrepublik gerichtet würde? "Eingriff in das Hoheitsgebiets der DDR durch bewaffnete Kräfte des Bundesgrenzschutzes".
Keine Frage - auch dieser dumme Vorfall musste gemeldet werden, zumal zu befürchten war, dass die Flammen auch auf Bundesgebiet übergreifen und die landwirtschaftlich genutzten Flächen ebenfalls in Brand setzen könnten.
Die Streifenposten und der Kraftfahrer wurden zwecks Verhinderung eines Übergreifens des Feuers auf Bundesgebiet mit dem Feuerlöscher aus dem MTW ausgestattet und ich setzte umgehend die Meldung über den "Grenzbrand" per Funk an die Abteilung ab.
Kurze Zeit später tauchten von den grenznahen bundesdeutschen Ortschaften Hornburg und Schladen kommend Blaulichter auf.

 

   
       

 

15 Minuten, nachdem die ersten Flammen auf dem DDR-Grenzgebiet loderten, erfolgte schon der Ruf: "Wasser marsch!" und innerhalb kürzester Zeit war das Feuer gelöscht.
Erst eine BGS-Leuchtpatrone auf DDR-Gebiet gefeuert, nun noch bundesdeutsches Wasser hinterher. Das DDR-Grenzgebiet wurde an diesem Morgen außergewöhnlich stark durch staatsfeindliche Kräfte belastet.
Ein ca. 50-80 Meter breiter und 20 Meter tiefer Grenzstreifen zunächst verbrannter und mittlerweile gewässerter Erde wurde zurück gelassen.

 


Das Bundesgebiet wurde Dank des schnellen Feuerwehreinsatzes nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Erneute Meldung an die Abteilung: "Brand gelöscht und unter Kontrolle!"
 

Dem Streifenberichtvordruck mussten nun noch einige Sonderseiten hinzu gefügt werden.
Wichtig war, dass in dem Bericht die Notwendigkeit der Anwendung der Signalpistole nachvollziehbar begründet wurde und die abgefassten Meldungen sowie erfolgten Maßnahmen im Bericht chronologisch und detailliert auftauchten.
 

Nach pünktlicher Rückkehr in die Abteilung führte der erste Weg zum Offizier vom Dienst (OvD), um ausführlich mündlich Meldung zu machen. Den schriftlichen Streifenbericht verfasste ich anschließend nach Abgabe der Waffen und Geräte.
Der OvD meldete dann zum allgemeinen Dienstbeginn dem Kommandeur der Abteilung das besondere Vorkommnis und ich durfte anschließend der Abteilungsführung den schriftlichen Bericht vorlegen und den Vorfall am Trittelbergweg nochmals ausführlich schildern.

Reaktion der Abteilungsführung:
Die Aufklärung eines vermuteten gescheiterten Fluchtversuchs hat den Gebrauch der Signalpistole gerechtfertigt.
Die daraus erfolgten Störungen im Grenzgebiet waren nicht zu erwarten und auch nicht beabsichtigt.
Alle weiteren Maßnahmen wurden seitens des Streifenführers zielgerichtet zur Vermeidung weiteren Schadens und der Situation entsprechend angepasst sachgerecht eingeleitetet.

In welcher Form mein Streifenbericht weiter geleitet wurde, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Ebenso, ob es von Seiten der DDR irgendwelche Reaktionen gegeben hat. Ich wurde jedenfalls weder von der Abteilungsführung noch von höherer Stelle ein weiteres mal zu meinem "Grenzzwischenfall" befragt.
Lediglich in der Hundertschaft musste ich mit dem "Makel" leben, die DDR in Flammen gesetzt zu haben.


Bis zum Schluss meiner achtjährigen Dienstzeit fuhr ich noch so manche Grenzstreife - darunter auch etliche Nachtstreifen.
Und zu den Ausrüstungsgegenständen gehörte auch jedes mal die Signalpistole inkl. Leuchtmunition.
 


 

aufgeschrieben von Wolfgang Roehl im April 2015