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Seite erstellt: 02.08.2014

Letzte Änderung: 07.01.2019

 

 

Birkengruppe verhinderte freie Sicht auf Abbenrode – Eingriff in das Hoheitsgebiet der DDR

 


 

BGS-Angehörige erinnern sich

 

Am 07. November 1984 wurde die Aussichtsplattform am Grenzübersichtspunkt Lochtum eingeweiht und für den Besucher freigegeben.

 

   

(BGS-Beamte mit örtlichen Politikern

kurz vor Einweihung der Plattform

Fotoquelle: Archiv DDR-GrTruppen)

Min.Rat Gallwitz durchschneidet das Absperrband    

 

Nachdem Ministerialrat Manfred Gallwitz das Absperrband durchschnitten hatte und man von der Plattform aus in die Grenzsperranlagen sowie auf Abbenrode schaute, stellte der Betrachter schnell fest, dass fünf Birken die Sicht auf Abbenrode einschränkten. Diese Birken standen dicht zusammen direkt links vor der Eckerbrücke auf DDR-Gebiet. Die Sicht auf Abbenrode konnte somit von westlicher Seite nicht verbessert werden.

 

Nach der Freigabe der Aussichtsplattform lud das Nds. Ministerium für Bundesangelegenheiten alle Beteiligten zu einem kleinen Umtrunk in eine Lochtumer Gaststätte ein. Danach verlegte der Technische Einsatzzug ins Schützenhaus Lochtum, um einen Zugabend abzuhalten. Das Schützenhaus liegt direkt neben der Degenmühle in unmittelbarer Grenznähe ca. 1,5 Km vom Übersichtspunkt Lochtum entfernt. Die Stimmung war sehr gut. Man freute sich gemeinsam mit Mitgliedern des Lochtumer Ortsrates sowie des Bürgermeisters über die Fertigstellung der Aussichtsplattform.

 

Zu fortgeschrittener Stunde fragte der BGS-Angehörige Lutz Schröder das Ortsratsmitglied Wilhelm Duderstadt, ob es hier im Schützenhaus eine Bügelsäge gäbe.

Hintergrund dieser Frage war, dass während der Einweihung sowohl die politischen Vertreter aus Hannover als auch der derzeitige Sachbearbeiter Sicherheit der Bundesgrenzschutzabteilung Goslar  die ihrer Meinung nach unbefriedigenden Sichtverhältnisse angesprochen hatten. Natürlich war daran offiziell nichts zu ändern, da sich die besagte Birkengruppe auf DDR Gebiet befand. Und humorvoll wurde so nebenbei angemerkt, dass die Aussicht doch ohne Birken viel besser wäre, wenn diese einfach umgesägt würden.

 

Diese Anmerkungen der "Hohen Tiere" aus Hannover wurden dann im Schützenhaus - zugegeben nach reichlichem Genuss allerlei alkoholischer Getränke - noch einmal ausführlich erörtert.

So reifte der Entschluss, die Birken schnellstmöglich umzusägen.  Nach weiterem alkoholischen Zuspruch und der Zusage für einen weiteren Umtrunk  seitens Wilhelm Duderstadt, erklärten sich Lutz Schröder und zwei weitere Kameraden bereit, die Sache jetzt und sofort durchzuführen.

 

Und so kam es zu schon oben angeführten Frage nach einer Bügelsäge. Nach geraumer Zeit kam dann auch Wilhelm Duderstadt mit einer kleinen Astbügelsäge an. Das Sägeblatt war total stumpf, dieses wurde jedoch erst später am „Tatort“ festgestellt.

 

 

Da alle noch in Uniform waren, wurden die Schulterstücke abgenommen und los ging es. Vom Schützenhaus über das freie angefrorene Feld wurde der Aussichtspunkt nach ca. 15.Minuten erreicht.

Ein wenig Angst war schon dabei. Man betrat nicht einfach mal so DDR Gebiet und schon gar nicht in Uniform. Dieses war ein Verstoß gegen die Dienstvorschriften und würde bei Bekanntwerden disziplinarisch verfolgt. Aber der Alkohol verdrängt ja bekanntlich vieles.

 

Die Jungs machten sich an die Arbeit und sägten die Birken fleißig an. Es wurde vorab beschlossen, die Stämme nur soweit anzusägen, dass sie noch stehen blieben. Der Verdacht sollte nicht sofort auf den BGS fallen, da ja an dem Tag die Einweihung der Aussichtsplattform gewesen war. 

 

 

Die Prozedur dauerte sehr lange, da - wie gesagt - das Sägeblatt saustumpf war und alle ziemlich betrunken. Auch deshalb verursachte der Sägeeinsatz entsprechenden Lärm - die andauernden Flüche mit inbegriffen.

Einmal musste zudem eine Pause eingelegt werden, da auf der östlichen Seite ein Grenzstreifenfahrzeug auf dem Kolonnenweg vorbeifuhr.

Das Einsatzkommando war die ganze Zeit über trotz des Alkoholpegels doch sehr angespannt. Erst als die kleine Gruppe wieder sicher auf bundesdeutschem Boden stand und das Schützenhaus in Sichtweite war, löste sich die Anspannung und alle brachen in großes Gelächter aus.

Die Säge kam wieder an ihren angestammten Platz und es wurde fleißig weitergefeiert. Selbstverständlich wurde Stillschweigen über die Sache vereinbart. Wie viele Personen etwas davon mitbekommen hatten, ist nicht bekannt. Nur das Ortsratsmitglied Duderstadt, der Gruppenführer Lothar Engler, Lutz Schröder und zwei weitere Kameraden waren an diesem Abend eingeweiht.

 

Als Lothar Engler und Lutz Schröder ca. zwei Wochen später während des Dienstes  zur Aussichtsplattform fuhren, waren alle Birken umgefallen. Der Blick nach Abbenrode war zwar noch nicht vollständig frei, aber etwas besser!

 

 

Und der Vorfall war mittlerweile auch von DDR-Seite bemerkt worden. Es befanden sich Grenzaufklärer vor Ort, um die Sache zu dokumentieren.


 

Für die Grenzaufklärer der DDR stellte sich der Vorfall wie folgt dar:

 

Selbstverständlich wurde der Bau der Aussichtsplattform in den einzelnen Bauabschnitten durch Grenzaufklärer akribisch verfolgt und dokumentiert.

 

Für die zu erwartende Personenbewegungen auf der Aussichtsplattform boten die natürlichen Bedingungen durch Pflanzenbewuchs auf DDR-Seite optimale Bedingungen für eine gedeckte Aufklärung. Durch den Bau der Aussichtplattform erwartete man eine verstärkte Anreise von hochrangigen Personen des öffentlichen Lebens, Reisegruppen und Führungen von Einheiten der NATO -Streitkräfte.

 

(obige Fotos sind in den Jahren 1985 bis 1989 aufgenommen worden)

 

Aus nicht mehr bekannten Gründen kam es im November 1984 nach der Einweihung der Plattform zunächst mehrere Tage lang nicht mehr zu Einsätzen von Grenzaufklärern vor dem Grenzzaun an der Straße Lochtum.

 

Anhand von noch vorhandenen Unterlagen (handschriftliche Aufzeichnungen) ist ersichtlich, dass erst am 18.11.1984 festgestellt wurde, dass einige Birken angesägt waren.

Das Ereignis wurde entsprechend dokumentiert. Zwei oder drei Birkenstämme mit einem Durchmesser von ca. 10 bis 15 cm waren zu 2/3 angesägt. Damit war die Absicht des „Täters“ klar: die Bäume sollten erst bei einer entsprechenden Windstärke brechen. Die Einschnittstellen waren bereits leicht angetrocknet, so dass man davon ausgehen konnte, dass der Vorgang schon mehrere Tage zurück lag.

 

 

Wann die Birken letztendlich durch Wind oder sonstiger Einwirkungen umgefallen sind, ist nicht mehr nachzuvollziehen.

Bis zur Feststellung des Ereignisses durch Grenzaufklärer vergingen mehr als 10 Tage, weil nach der „Tat“ zwischenzeitlich keine Grenzaufklärer vor dem Zaun eingesetzt waren. Ansonsten wäre der „Sabotageakt“ sicherlich früher bekannt geworden. Auf Grund des starken Bewuchses entlang der Ecker in nördliche Richtung war es auch unmöglich, Personenbewegungen westlich der Ecker festzustellen. Es gab somit keinen Hinweis auf Täter oder Tatzeit.

 

Durch die verantwortlichen Grenzaufklärer Helmut Maushake und Andreas Würz wurde beschlossen, über das Ereignis Stillschweigen zu bewahren. Eine offizielle Meldung an die vorgesetzten Dienststellen wäre erwartungsgemäß mit einer Vielzahl von Rückfragen verbunden, die niemand hätte beantworten können.

Natürlich wurde von Anfang an vermutet, dass der „Anschlag“ von bundesdeutscher Seite deswegen ausgeführt wurde, um die durch die Birken und den sonstigen Bewuchs hervorragend getarnte Stellung der Grenzaufklärer zu enttarnen. Problemlos war es möglich, von hier aus unentdeckt Angehörige der bundesdeutschen Grenzüberwachungsorgane,  der NATO –Streitkräfte, ihre Dienstgrade und taktischen Zeichen oder sonstige auffällige Personen mit einem  Objektiv mittlerer Brennweite zu fotografieren.


 

Dass es den "Tätern" bei dem „Anschlag“ auf die Birken nicht darum ging, die getarnte Stellung der Grenzaufklärer frei zu legen, sondern die Einsehbarkeit des näheren Ortsrandes von Abbenrode zu verbessern, wurde jedoch erst 30 Jahre später im Rahmen des Abbenroder Grenzertreffens aufgeklärt.


 

Die Aufklärung des Birkenanschlags

 

Im Oktober 2013 entstand aus einer Idee von Lothar Engler ein sogenanntes „Grenzertreffen“. Hierbei handelt es sich um ehem. Zöllner, Grenztruppenangehörige und Bundesgrenzschützer. Diese Grenzer treffen sich in loser Folge mehrmals im Jahr im Heimatmuseum in Abbenrode. Sie tauschen sich über ihren damaligen Dienst an der Grenze aus, ordnen Bilder zu und arbeiten gemeinsam an der Aufarbeitung der Geschichte der ehem. innerdeutschen Grenze.

 

Teilnehmer des "Grenzertreffens"

 

Schon beim ersten Treffen fragte Lothar Engler die Grenztruppenangehörigen, wer denn den Brandanschlag am 06. Dezember 1986 auf die Aussichtsplattform verübt hat. Eine Beteiligung seitens der Grenztruppen wurde selbstverständlich von ihnen bestritten.

Im Frühjahr 2014 hatte der ehem. Grenztruppenangehörige Helmut Maushake zu seinem 70-igsten Geburtstag auch eine Abordnung aus dem Kreis des Grenzertreffens zu sich eingeladen.

Zu später Stunde kam wieder die Frage von Lothar Engler: „Nun raus mit der Sprache. Wer von euch hat das Podest angesteckt?“

 

 

„Keiner von uns!“, entgegnete der ehem. Grenzaufklärer Andreas Würz.

„Aber ich kann mich erinnern, dass da kurz nach der Einweihung des Podestes im Herbst 1984 Birken angesägt waren, die direkt an der Eckerbrücke standen. Den Schaden habe ich festgestellt und auch Bilder davon gefertigt.“

Helmut Maushake war dieser „Anschlag“ auch sofort wieder bewusst und er holte sogleich seinen Ordner mit Negativen hervor. Durch ca. 10 Bilder wurde der „Sabotageakt“ am 18. November 1984 festgehalten.

 

 

Andreas Würz hatte sogar ein Kalenderblatt mit Zentimetereinteilung in die Sägeschnitte hineingesteckt, um die Schnitttiefe festzustellen.


 

Für einen vernünftigen Abschluss der Aufarbeitung des Birkenanschlags war es selbstverständlich erforderlich, dass sich die damals Beteiligten noch einmal am "Tatort" einfinden mussten.

Anfang März 2015 trafen sich deshalb der ehemalige BGS-Beamte (und Täter) Lutz Schröder sowie die beiden ehemaligen DDR-Grenzaufklärer Helmut Maushake und Andreas Weihe an der Eckerbrücke vor Abbenrode zu einer abschließenden Fotosession und einem versöhnlichen Handschlag.

Ende gut - alles gut!

 

Auf den sechs Fotos (oben und unten) jeweils v.l.n.r.: Lutz Schröder (BGS), Helmut Maushake und Andreas Würz (GAKs)

 


Anmerkung zum Schluss dieser zur heutigen Zeit erheiternden Geschichte zwischen Ost und West:

Wir alle, die dem festen Kreis des Grenzertreffens angehören, verstehen uns sehr gut. Jeder akzeptiert den damaligen Dienst des „anderen“! 

Bei den Zusammenkünften kommen natürlich auch ungewöhnliche Ereignisse zur Sprache. Die Aktion „Birkenschnitt“ ist ein solches besonders Ereignis. Und wenn mit der Aufarbeitung dieser Geschichten heutzutage neben oftmaligen Erstaunen auch noch die Lachmuskeln strapaziert werden (und letztendlich jeder auch über sich selber lachen kann), trägt dies umso mehr dazu bei, dass sich die Grenzertruppe bestens versteht.


 

aufgeschrieben im Juli 2014 von Andreas Würz, Helmut Maushake, Lutz Schröder und Lothar Engler / zusammengestellt von Wolfgang Roehl / Fotos vom Birkenanschlag von Andreas Würz und Helmut Maushake / Restfotos von Werner Linde, Lothar Engler und Wolfgang Roehl